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Sandra Gottwaldt

Über zwei Menschen - Kurzgeschichte

„Gefangen im Sturm deines Gemüts, verlor ich die Orientierung.“ Daniel ist jung und man könnte sagen, dass er das Leben noch vor sich hat. Doch irgendwie fühlt es sich für ihn nicht so an. Er sitzt im Zug und starrt hinaus zu der tristen Landschaft. Der bunte, schöne Herbst ist vorbei und der Winter, der alles in seiner sanften Weise umhüllt, lässt noch auf sich warten.

Eine Frau stolpert durch den Zug und lässt sich lautstark gegenüber von Daniel fallen.

„Hi“, spricht sie ihn laut an.

„Hey“, murrt Daniel zurück und starrt weiter aus dem Fenster. Er hat keine Lust auf Smalltalk. Wozu auch?

„Wie geht‘s?“, fragt sie ihn und etwas an ihrer Stimme kommt ihm bekannt vor, sodass er aufschaut und in ein vertrautes Paar dunkelgrüner Augen starrt. Er schluckt schwer. Das kann doch nicht wahr sein. „Hast du mich jetzt erkannt?“, hört er sie fragen und starrt sie gebannt an.

„Ja.“

„Ist das alles, was dir einfällt?“, lacht sie forsch und zieht sich die karamellfarbene Mütze von ihren dunkelbraunen Haaren, die früher blond waren. „Früher warst du gesprächiger.“

„Was machst du hier?“, fragt er verdattert und betrachten den Ring in der Mitte ihrer Unterlippe. Sie sieht so anders aus. Aber noch genauso attraktiv wie früher, wenn auch erwachsener.

„Gute Frage.“ Sie tut so als würde sie überlegen. „Ach, genau. Ich fahre Zug“, erwidert sie frech und lächelt. Doch ihre Augen bleiben eiskalt. Es ist als würde der Winter plötzlich im Abteil sitzen.

„Mel,…“, beginnt er und ein Schauer läuft ihm über den Rücken.

„Ach, die Zeiten sind längst vorbei. Seit Jahren hat mich niemand mehr Mel genannt. Aber wie schön, dass wir uns ausgerechnet hier treffen. Im Zug. Wo du nicht einfach verschwinden kannst, wie es dir gerade passt.“ Sie sagt es leicht heraus. Direkt und dennoch klingt es beiläufig, in der Art wie sie es sagt.

„Da irrst du dich“, antwortet Daniel und stellt erfreut fest, wie sie irritiert mit den Augen blinzelt.

„Ach, ja?“

„Man hat immer eine Wahl.“ Daniel greift nach seiner Jacke, seinem Rucksack und steht auf. Er blickt sie an und stellt fest, dass sie ihn vergnügt anblickt. Ihre Augen blitzen und es ist als wäre die Kälte nie dagewesen. „Du hast dich nicht geändert“, sagt er und ihm wird kurz das Herz schwer, wie so oft, wenn er an sie denkt. „Und falls du es vergessen hast: ich musste gehen. Und ich würde es immer wieder tun. Für dich. Und vor allem für mich selbst.“ Daniel geht durch den Zug und verlässt das Abteil. Er lässt den Menschen zurück der ihm einst alles bedeutet hat. Wieder.


© Sandra Gottwaldt

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